Herrnhuter Lebensläufe

Vor fast 100 Jahren regte der Nestor der sorbischen Kulturgeschichtsforschung, Ota Wićaz, an, die Lebensläufe von sorbischen Mitgliedern der Brüdergemeine zu veröffentlichen. Bei diesen Lebensläufen handelt es sich um eine spezifische Textgattung der Herrnhuter Brüdergemeine. In ihnen berichtet der Schreiber in erster Linie über den Weg zur und mit der Gemeine. Obwohl die Texte also eine religiöse Berufungsgeschichte darstellen, geben sie gleichzeitig in detaillierten Beschreibungen, Erinnerungen und Beobachtungen einen Einblick in das gelebte Leben. Damit stellen sie einen großen Schatz für die sorbische und Lausitzer Kulturgeschichtsforschung dar. Dies hatte Ota Wićaz erkannt und selbst erste Studien zum Wirken der Brüdergemeine unter den Sorben verfasst. Der Forderung Wićaz´ entsprechend werden an dieser Stelle ausgewählte Lebensläufe erstmals öffentlich präsentiert.

Zur Tradition der Lebensläufe in der Herrnhuter Brüdergemeine

Die herrnhutischen Lebensläufe entwickelten sich aus einer langen christlichen Tradition heraus, religiöse Erfahrungen schreibend zu verarbeiten und für andere festzuhalten bzw. ein beispielhaftes christliches Leben darzustellen. Im Pietismus erlebte diese Praxis einen neuen Höhepunkt. In den erweckten Kreisen zirkulierten gedruckte Lebensläufe, Sammelbiografien oder auch einzelne Lebensbeschreibungen, in deren Zentrum jeweils das religiöse Erleben des Einzelnen stand.

An diese Tradition anknüpfend, entwickelte sich innerhalb der Brüdergemeine die spezifische Tradition des Lebenslaufschreibens. Spätestens ab Mitte des 18. Jahrhunderts war jedes Mitglied der Gemeine dazu angehalten, einen Lebenslauf zu verfassen und darin den eigenen (religiösen) Lebensweg nachzuvollziehen, der dann während der Begräbnisfeier verlesen werden sollte. Insofern handelt es sich bei den Lebensläufen um öffentliche, für einen liturgischen Ritus verfasste Texte. Jedes Gemeinmitglied hatte bereits während des Schreibprozesses die Gemeinschaft im Blick. Nach der Beerdigung wurden die Lebensläufe im Archiv der Ortsgemeine gesammelt. Häufig wurden zudem Abschriften der Texte erstellt und nach Herrnhut übersandt, wo sie im zentralen Archiv der Brüdergemeine aufbewahrt werden. Eine große Anzahl der Lebensläufe wurde in den handschriftlichen Gemeinnachrichten und später in den gedruckten Nachrichten aus der Brüdergemeine veröffentlicht. Heute befindet sich im Unitätsarchiv Herrnhut mit etwa 30 000 Lebensläufen die umfangreichste Lebenslaufsammlung. Deshalb wurde im Rahmen dieses Projekts größtenteils mit der Sammlung des Unitätsarchivs in Herrnhut gearbeitet, ergänzend dazu jedoch auch der Bestand des Ortsarchivs der Brüdergemeine Kleinwelka gesichtet.

Bei den Lebensläufen handelt es sich um keine Biografien im heutigen Sinne. Bevor ein Mitglied der Gemeine seinen eigenen Lebenslauf niederschrieb, hatte es zu Beerdigungen und in Lesungen bereits zahlreiche Lebensläufe gehört und häufig einige gelesen. In diesem Sinne stellen die Lebensläufe keine eigenständigen Reflexionen dar, sondern die Verfasserinnen und Verfasser folgten einem anerkannten, oftmals ver- und gelesenem Muster, an dem sie sich orientierten, das sie mitformten und weitertradierten.

Aus Sicht der Gemeine sind die Lebensberichte vor allem als Orientierungstexte und Verkündigung des göttlichen Wirkens im eigenen Leben zu verstehen. Betrachtet man sie jedoch aus soziologischer Perspektive, so sind die Lebensläufe als „Medium der Vergemeinschaftung“ zu charakterisieren. Der Einzelne schreibt sich in die Gemeinschaft der Brüdergemeine ein und formt diese mit.

Erste Seite des Lebenslaufes von Martin Böhmer, der in 1796 in Nazareth/Pennsylvanien verstarb. Über seine Eltern berichtet er, sie „waren von der Wendischen Nation, u lutherischer Religion.“ (Unitätsarchiv Herrnhut).
Erste Seite des Lebenslaufes von Martin Böhmer, der in 1796 in Nazareth/Pennsylvanien verstarb. Über seine Eltern berichtet er, sie „waren von der Wendischen Nation, u lutherischer Religion.“ (Unitätsarchiv Herrnhut).

Lebensläufe als historische Quelle

In den wenigsten Fällen liegen bei den Lebensläufen tatsächlich Originale im Sinne von Autografen vor, das heißt in der Regel finden sich in den Archiven nur bereits redigierte und bearbeitete Abschriften. Dabei handelt es sich größtenteils um Umformulierungen, Kürzungen, stilistische und orthografische Korrekturen, um eine bessere Lesbarkeit zu erreichen. Häufig gibt es zudem verschiedene, voneinander variierende Versionen der Texte. An einzelnen Lebensläufen lassen sich jedoch auch umfangreichere Streichungen und Bearbeitungen nachweisen. Als Beispiele dafür sind in diese Sammlung jeweils zwei Versionen der Lebensläufe von Georg Mross und Georg Threne aufgenommen. In beiden Fällen ist davon auszugehen, dass es sich bei der fragmentarischen Lebensschilderung tatsächlich um autobiografische Notizen handelt. Möglicherweise trifft dies auch auf den hier veröffentlichten Lebenslauf des Matthäus Lange zu.

Die Schreiberinnen und Schreiber der Lebensläufe nahmen in ihren Berichten häufig direkt oder indirekt Bezug auf Liedverse, Bibelstellen und Gebete. Damit stellten sie ihr Leben in einen raum- und zeitübergreifenden Zusammenhang und eröffnen dem Leser bzw. Hörer, der mit diesen Texten vertraut ist, einen weiten Deutungsrahmen.

Thematisch dominiert in den Lebensläufen des 18. Jahrhunderts meist das Erweckungserlebnis und der Weg zur Brüdergemeine. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verschieben sich die Prioritäten und die eigene Familien- und Berufsgeschichte rückt in den Vordergrund. Die Brüdergemeine bildet häufig nur noch den entsprechenden Handlungsraum.

Inhalt und Aufbau der Lebensläufe

Je nach Erzähltalent, Beobachtungsgabe, Reflexionsvermögen, Mitteilungsbedürfnis und persönlichem Erleben und Ergehen kann der Umfang der Lebensläufe sehr variieren. So gibt es Texte, die nur wenige Zeilen umfassen, aber auch umfangreiche Schilderungen.

Ein typischer Lebenslauf folgt einem zweiteiligen Aufbau: dem eigenhändigen oder diktierten Text des Verfassers schließt sich ein Bericht vom Ende der eigenen Aufzeichnungen, über die letzten Krankheitstage und das Sterben des Gemeineglieds an. Dieser Teil wurde meist von Verwandten oder nahestehenden Personen aus der Gemeine verfasst. Hatte der Verstorbene keinen Lebenslauf niedergeschrieben, so übernahmen dies in der Regel Familienmitglieder oder auch Mitarbeiter der Gemeine im Nachgang, mitunter im Rückgriff auf persönliche Aufzeichnungen.

Wichtige Daten bzw. Wegmarken, die in den Lebensläufen angegeben werden, sind das Erweckungserlebnis, die Zugehörigkeit zu einer Sozietät, die Erlaubnis, sich in einer Ortsgemeine niederzulassen, die Aufnahme in die Gemeine sowie die Zulassung zur Abendmahlsfeier in der Gemeine. Häufig finden sich auch Angaben zu Ämtern und Aufgaben in der Brüdergemeine, wie etwa im Besuchs- oder Krankendienst als Saalaufseher oder Lehrer. Entsprechend diesem zentralen Fokus finden sich nicht zwangsläufig alle (im heutigen Verständnis) biografisch wichtigen Stationen oder Ereignisse, wie etwa beruflicher Werdegang, Heirat, Kindsgeburten, Sterbefälle naher Angehöriger, wirtschaftliche Notzeiten etc., in den Lebensläufen wieder. Auffällig ist zudem, dass Konflikte nur selten ausdrücklich thematisiert werden. Häufig sind sie für heutige Leser schwer entzifferbar, mögen sich aber den zeitgenössischen Zuhörern eher erschlossen haben. Nicht selten wurden Auseinandersetzungen und Notlagen vom Schreibenden mit Rücksicht auf (noch lebende) Gemeinmitglieder nicht thematisiert, zum Teil wurden sie jedoch auch im Zuge des redaktionellen Prozesses in der Darstellung abgeschwächt oder ganz gestrichen.

In der historischen Auseinandersetzung mit Lebensläufen muss man sich deshalb des rituellen Charakters der Texte immer bewusst sein. Als Exempelgeschichten sollten sie den Hörern Orientierung geben und in der aktuellen Situation Trost spenden. Lebensläufe sind also von den Themen und Sprachbildern der Gemeine überformt. Doch trotz aller Uniformität und Abhängigkeit ermöglichen sie einen Zugriff auf individuelles Wissen und Erleben, dessen Bedingungen und Umstände. Sie geben Einblick in die Frömmigkeitspraxis und lassen zahlreiche Lebensthemen wie Erziehung, Ausbildung, Umgang mit Krankheit und Tod, Spannungen zwischen Individuum und Gemeinschaft anklingen.

Lebensläufe aus sorbischer Perspektive

Die vorliegende Sammlung beinhaltet in erster Linie Lebensläufe von Mitgliedern der Brüdergemeine sorbischer Herkunft. Darüber hinaus wurden jedoch auch Lebensläufe von Personen, die in der sorbischen Diaspora gewirkt haben und Aussagen über diese treffen, aufgenommen. Nicht in allen Lebensläufen wird die sorbische Herkunft bzw. das sorbische Lebensumfeld direkt greifbar. In diesem Falle ist der sorbische Bezug meist über den Geburtsort bzw. das geschilderte Lebensumfeld zu erschließen.

Für die Oberlausitz orientiert sich die Definition des sorbischen Sprachraums für das 18. Jahrhundert an den Kirchgemeinden, in denen regelmäßig sorbischer Gottesdienst stattfand. Gerade im dörflichen Bereich ist hier häufig von einem geschlossenen, größtenteils einsprachig sorbischen Sprachgebiet auszugehen. Der Anschluss an die Brüdergemeine bedeutete in diesem Falle für den Einzelnen häufig auch den Übergang zur Zweisprachigkeit.

In der Niederlausitz stellt sich die Lage etwas differenzierter dar. Aufgrund der teilweise sehr rigiden preußischen Sorbenpolitik und einer gezielten Anwerbung deutscher Siedler sind größere deutsche Sprachinseln im dörflichen sorbischen Sprachraum anzunehmen. Gleichwohl ist für die Kreise Cottbus und Spremberg sowie den Spreewald im 18. Jahrhundert von einer sorbischen Bevölkerungsmehrheit in den Dörfern auszugehen. Überwiegend Sorbisch wurde wohl auch in den Dörfern um Calau und Senftenberg gesprochen.

Anders als im Falle der böhmischen Gemeine in Berlin/Rixdorf, in der eine Vielzahl von Lebensläufen in tschechischer Sprache aufbewahrt werden, sind keine sorbischsprachigen Lebensläufe erhalten. Ob überhaupt Lebensläufe in sorbischer Sprache verfasst wurden, ist schwer zu entscheiden. Möglicherweise waren die sorbischen Mitglieder der Brüdergemeine bereits so weit zweisprachig, dass dies von den Kleinwelkaer Predigern nicht als nötig erachtet wurde. Andererseits ist bekannt, dass Lebensläufe von prominenten Mitgliedern der Gemeine ins Sorbische übersetzt wurden. Hinzuweisen ist zudem auf den gedruckten Lebenslauf Michała Kliemanta z Truppina żiwenje, der sich an den brüderischen Lebensläufen orientiert und möglicherweise auf eine sorbische Lebenslauftradition verweist.

Für die sorbische und damit auch Lausitzer Kulturgeschichtsforschung stellen die brüderischen Lebensläufe einen einmaligen Quellenkorpus dar, handelt es sich doch um Selbstzeugnisse von Sorben aus (überwiegend) dörflichem Milieu aller Schichten. Diese Autobiografien lassen uns teilhaben an Alltag und Lebenswelten vergangener Zeiten und geben Einblick in Selbstwahrnehmung und Selbstverortung ihrer Protagonisten. Trotz aller Stereotypizität wird in den Lebensläufen mit ihren Aussagen zu Zweisprachigkeit, Lesefähigkeit, Mobilität, Wahrnehmungen und Erfahrungen die sorbische Alltagswelt der anbrechenden Moderne greifbar. In ihrer Vielfalt bilden die Lebensläufe der sorbischen Geschwister das Gedächtnis der sorbischen Diaspora und in den Anfangsjahrzehnten auch das Gedächtnis des Gemeinortes Kleinwelka. Nicht zuletzt stellen die Lebensläufe ein einmaliges Zeugnis brüderischer und in diesem Sinne auch Lausitzer bzw. sorbischer Bestattungskultur dar.

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